Interviewreihe Inklusion im Sport - Verein(t) für Alle
Mit unermüdlichem Engagement setzen sich die Mitglieder in Ihrem Verein seit über 20 Jahren dafür ein, Menschen mit Behinderung in den Judosport und das aktive Vereinsleben zu integrieren. Angefangen hat es bereits 1997 als Sie einen 13-jährigen Jungen mit Down-Syndrom im Training aufgenommen haben. Mittlerweile nehmen Menschen mit verschiedensten Behinderungen am Training teil. Können Sie uns kurz erzählen, welche Behinderungsarten vertreten sind?
Antwort: Eigentlich sehen wir unsere Sportler*innen nicht mit ihren Behinderungsarten, sondern nach den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Dennoch möchte ich versuchen die Frage fachlich gut zu beantworten: Unsere Teilnehmer haben alle eine Intelligenzminderung, wobei die Spannweite von einer leichten bis zur schweren Intelligenzminderung reicht. Ungeachtet auf die Ursache der Behinderung, bringen viele unserer Teilnehmer eine Mehrfachbehinderung in Form von Bewegungseinschränkungen mit, die aus der Gruppe der Cerebralparese oder dem Adipösen stammt. Als große Einbindungsleistung sehen wir unseren Alexander, der trotz seiner Paraplegie am Training teilnehmen kann.
Wie schaffen Sie es, die Sportart Judo auf die verschiedenen Behinderungen anzuwenden bzw. zielgerichtet zu trainieren? (Gibt es beispielsweise ausgebildete Übungsleiter oder suchen Sie sich Info- oder Trainingsmaterial zusammen, wie Sie das Training aufbauen können?)
Antwort: Judo ist sehr vielseitig und hat für unsere Leute zusätzlich den Vorteil, dass alles auf einer Matte stattfindet, wo die Angst der Verletzung genommen ist. Judo bietet ein vielseitiges Angebot an Stand- und Bodentechniken. Durch Übungen zum Fallen, Werfen und Halten ist die Sportart von sich aus so vielseitig strukturiert, dass eine differenzierte motorische Entwicklung beim Judosportler erwartet werden kann. Methodisch tritt das Lernen im Spiel, durch Spiel und auf spielerische Weise in den Vordergrund. Techniken wie Hebeln, Würgen und verschiedene Würfe werden im Reha-Sport nicht gelehrt.
Auch wenn ich selbst diese Trainerlizenz innehabe, kommen die meisten Ideen für die Trainingsgestaltung größtenteils aus dem Internet. Da diese aber überwiegend auf den allgemeinen Breitensport zugeschnitten sind, verändern wir die Regeln soweit, bis diese für unsere Sportler*innen mit den multiplen Einschränkungen passen. So ist es auch mit den Programmen als Vorgabe für Gürtelprüfungen. Obwohl wir im Judo eine spezielle Prüfungsordnung für Menschen mit Behinderung haben, die sich sogar nochmal in „gehfähig“ und „nicht gehfähig“ unterscheiden, nehmen wir bei der Prüfungsabnahme Rücksicht auf die physischen und kognitiven Möglichkeiten, auch hier passen wir die Regeln an den betroffenen Menschen an. Dass unser Konzept erfolgreich ist zeigen auch die vielen Erfolge auf nationaler und internationaler Ebene. In den vielen Jahren der Zusammenarbeit haben wir schon mit ca. 16 Nationen zusammen trainiert, gekämpft und gefeiert.
Ihrer Homepage zu entnehmen, trainiert die Handicap-Gruppe einmal wöchentlich. Nehmen die Sportler mit einer Behinderung auch an anderen Trainingseinheiten gemeinsam mit Menschen ohne eine Behinderung teil? Oder bezieht sich das Angebot für Menschen mit Behinderung nur auf die Handicap-Gruppe?
Antwort: In den Anfangszeiten hatten in der Tat unsere Judokas mit Handicap in den allgemeinen Judogruppen mittrainiert, das konnte auch gut gesteuert werden. Mit dem zahlenmäßigen Anstieg von Sportlern*innen mit Handicap war das Leistungsgefälle so stark, dass wir eine neue angepasste Gruppe gründen mussten. Auch wenn wir diese intern als Handicap-Gruppe bezeichnen, ist sie doch eine den Leistungen angepasste Breitensportgruppe. Es ist noch zu erwähnen, dass auch in dieser Gruppe Menschen mit Berufsausbildung und Führerschein trainieren.
Veranstaltungen wie Vereinsausflüge, Grillnachmittage, Helferfeste werden nur gemeinsam durchgeführt. Selbst beim Dorffest stehen unsere Leute mit am Grill oder am Zapfhahn. Auch bei den Arbeitseinsätzen im oder ums Vereinsheim mit Sporthalle, mit anschließendem gemeinsamen Vesper sind wir zusammen.
Sie haben 2016 ein verwaistes Schützenhaus übernommen und in den vergangenen Jahren daraus eine bewusst barrierefreie Sportanlage mit behindertengerechten Sanitäranlagen daraus gemacht. Mit der Förderung von privater und geschäftlicher Bevölkerung sowie der Unterstützung von Aktion Mensch und Toto Lotto! ist es Ihnen gelungen das Projekt zu finanzieren. Was treibt Sie an, was motiviert Sie, solche Projekte anzugehen und sich für eine gleichberechtigte Teilhabe am Sport einzusetzen?
Antwort: Im Jahr 1997 war ich Initiator der Vereinsgründung und hatte immer motivierte Wegbegleiter. Mein Verein war immer meine Werkstatt für kreativen Beitrag. Weil wir ein kleiner Verein sind, können große Planungen innerhalb kurzer Zeit umgesetzt werden. Zum Beispiel waren wir sechsmal im Ausland, von Malmö bis runter nach Ravenna, waren auch in München, Berlin und Herne etc., es wurde über uns gesprochen, wir haben uns großen Respekt erworben. Seit 2006 werden unsere Sportler*innen mit Handicap ununterbrochen zur Sportlerehrung der Gemeinde eingeladen, weshalb meine Gemeinde von der Lebenshilfe ausgezeichnet wurde. Ich vermute, dass der Spaß an der Arbeit, der auch große Erfolge und Anerkennung hervorbringt mit antreibt und motiviert, zumal ich für diese Arbeit schon in die Landesvertretung nach Brüssel, sowie zweimal ins neue Schloss nach Stuttgart geladen wurde. Auch die Nominierung zum europäischen Bürgerpreis 2019 können wir vorweisen.
Es sind aber auch hervorragende Plattformen entstanden, wo sich Menschen mit und ohne Behinderung treffen. Zum einen Plattformen, bei denen auf die Leistungen von Menschen mit Behinderung aufmerksam gemacht werden kann und zum anderen ist z.B. unsere offene Baden-Württembergische Landesmeisterschaft zu nennen, wo wir von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wurden: Landesminister Dr. Erwin Vetter, Dr. Thomas Schäuble, Landesbischof Dr. Ulrich Fischer, Reg. Präsidentin Nicolette Kressl und vielen weiteren aus Politik, Industrie und Forschung. Auch die jetzige Regierungspräsidentin Frau Sylvia Felder verfolgt unser Wirken schon viele Jahre und hat für unser Anliegen immer ein offenes Ohr.
Sie blicken nun auf viele erfolgreiche Jahre inklusive Sportvereinsarbeit zurück. Haben Sie einen Tipp für andere Vereine wie das langfristig gelingen kann?
Antwort: Eine sehr komplexe Frage, die sicherlich nicht einfach zu beantworten ist. Ich würde diese Frage aber gerne etwas drehen und diese aus Sicht der Menschen mit Behinderung stellen. Wenn ich gedanklich durch die mir bekannten Wohnheime und Werkstätten gehe, sehe ich viele körperlich fitte Menschen, die können gehen, laufen, sind abgesehen von einer geistigen Minderung vital. Diese Gruppe hat aber doch die kleinere Schnittmenge im Vergleich zur ganzen Werkstatt- Wohnheimbelegung. Über diese Menschen brauchen wir uns keine Gedanken machen, die sind größtenteils irgendwo, sicher sogar, mehrfach angebunden. Als Beispiele können auch Feuerwehren, Ballsportvereine etc. genannt werden. Aber wo gehen die Menschen hin, die ich für uns in der 1. Frage schon beantwortet habe? Wo bleiben die gehbehinderten, humpelnden, langsamen, krummen Menschen mit Fehlwuchs und Sprachstörungen? Wo bleiben die Menschen, die sehr oft nicht über das Erlernen von speziellen Eigenschaften der Vereine ankommen, sondern nur das regelmäßige Zusammengehörigkeitsgefühl genießen?
Die Vereinsaufnahme und das gesellschaftliche Zusammensein von Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung werden immer mit Mehraufwand verbunden sein, den muss man wollen und können. Aber es findet auch zeitgleich ein Treffen mit zufriedenen, dankbaren Menschen statt, die in der Tat mit Talenten des ehrlichen Gebens ausgestattet sind. Ein Lachen, eine Umarmung als Beitrag der zwischenmenschlichen Anerkennung, ist natürlich durch nichts zu ersetzen. Vereine die sich diesem öffnen, werden einen neuen, auch entschleunigten Blick auf Gleichsinn erhalten, der auch im privaten Leben bereichert. Ich bin der Überzeugung, dass in jedem Verein Platz für einen Menschen mit Behinderung gefunden werden kann. Eine gewisse Gelassenheit im Anspruch ans Leben, könnte einem langfristigem Gelingen der Inklusion dienen, oder wie es der Lyriker Erich Fried in seinem Gedicht auf den Punkt bringt: Es ist was es ist.